Frauke Wilhelm war und ist als Sportpsychologin u. a. für DFB Junioren-Nationalmannschaften sowie verschiedene Bundesliga-Teams tätig und am IFI Programmleiterin des Institutszertifikats „Sportpsychologische Kompetenzen“.
In diesem Programm, das sich an Trainer, Manager oder andere Führungskräfte in allen erfolgsorientierten Vereinen richtet, stellen Frauke Wilhelm und weitere erfahrene Sportpsycholog*innen Antworten vor auf Fragen wie:
- Was kann ich als Trainer tun, um meinem Team eine Siegermentalität zu vermitteln?
- Welche Methoden gibt es, um mit Druck optimal umzugehen?
- Wie kann ich mein Team mental am besten auf wichtige Spiele vorbereiten?
- Wie mache ich aus einer Gruppe ein funktionierendes Team, das als Einheit über sich hinauswächst?
Und genau vor diesen Fragen stehen aktuell auch Hansi Flick und sein Team bei der WM in Katar. Vor dem entscheidenden Gruppenspiel der deutschen Elf gegen Costa Rica hat sich Frauke Wilhelm Gedanken zur Lage beim DFB-Team gemacht:
Was war am bisherigen Turnierverlauf der deutschen Mannschaft aus Sicht einer Sportpsychologin beachtlich?
Frauke Wilhelm: Ich finde, schon die Vorbereitung des Turniers gestaltete sich aus psychologischer Sicht sehr herausfordernd: wenig Zeit bis zum ersten Match, neue Spieler in die Gruppe integrieren, die verletzten Leistungsträger Manuel Neuer und Thomas Müller, die eigentlich immer fit waren, eine WM zur ungewohnten Zeit und im Anschluss an eine Serie Englischer Wochen, viele „Störgeräusche“ – es war eine Menge sportpsychologische Kompetenz nötig, um die Gruppe überhaupt ordentlich zum ersten Einsatz zu steuern. Und dann das erste Match: Eigentlich gut gespielt und ein gutes Gefühl, aber verloren. Fehlende Abstimmungen führten zu Fehlern und die Mannschaft schien sich noch nicht ausreichend gefunden zu haben, um im Spiel gegensteuern zu können. Doch danach scheint das Richtige passiert zu sein: Aussprachen und die von vielen erwähnten offenen Gespräche in der Gruppe und zwischen Einzelnen scheinen für mehr Klarheit gesorgt und das Team enger zusammengebracht zu haben. Ich habe den Eindruck, dass die Spieler auch eigenständig Verantwortung übernehmen und zum Beispiel Gespräche untereinander suchen. Ein gutes Zeichen. Außerdem habe ich gegen Spanien deutlich mehr „Wir“ gespürt als gegen Japan. Die Mannschaft hat es bis zum Ende geschafft, Leistung zu zeigen, und hart, gemeinsam und erfolgreich gegen den Rückstand gekämpft.
1:2 gegen Japan, 1:1 gegen Spanien – das letzte Gruppenspiel gegen Costa Rica ist „Do or Die“. Was muss das Trainer-Team jetzt tun, was muss es lassen?
Die Trainer müssen dem Team vermitteln, dass es vor einer tollen Herausforderung steht: Die Spieler dürfen Mut und Kreativität für super Abschlüsse wagen, während sie Leidenschaft und Disziplin in der Defensive zeigen. Also: Macht ihnen Mut! Aber bitte nicht zu viel: Denn die DFB-Elf darf keinesfalls zu stürmisch oder übermütig an die Sache rangehen, obwohl sie ja mit zwei Toren Unterschied gewinnen sollte. Die Mannschaft weiß selbst, dass sie nicht einfach so vier, fünf Treffer gegen Costa Rica schießen wird. Sie müssen also das Gegentor vermeiden und selbst mindestens zweimal treffen – eine Gratwanderung. Dafür ist sehr viel Konzentrationsfähigkeit notwendig. Wie man bei den einzelnen Spielern diese richtige Einstellung erreichen kann, ist sehr unterschiedlich. Das ist eine der großen Herausforderungen an Trainer: Trotz der Größe des Kaders müssen sie Spieler auch persönlich abholen. Die eine Ansprache, die eine Maßnahme, die absolut alle erreicht, gibt es nicht. Darum ist es auch so wichtig, dass das gesamte Funktionsteam über sportpsychologische Kompetenzen verfügt, an einem Strang zieht und alle auf die individuellen Bedürfnisse der Spieler eingehen.
Manche haben nach der Niederlage zum Auftakt schon die berüchtigte Grüppchenbildung im DFB-Lager fern-diagnostiziert. Wie schätzt Du die Gruppedynamik im DFB-Team ein?
Von Ferndiagnosen lasse ich normalerweise die Finger. Was innerhalb einer Mannschaft passiert, kann ich vor dem Fernseher nicht beurteilen. Trotzdem versuche ich, ein Gefühl für die Mannschaft zu bekommen, indem ich beim Spiel, Aufwärmen oder Presseterminen genau hinschaue. Da springen mir aktuell keine Unstimmigkeiten ins Auge. Aber Luft nach oben ist wahrscheinlich schon. Wenn ich einmal mit den Frauen bei der EM im Sommer vergleiche, sprang damals der „Teamfunke“ mehr über. Hoffentlich erleben wir das von den Männern in den nächsten Wochen auch noch …
Das 1:1 gegen Spanien und die Reaktionen darauf im Team: Was spricht für Befreiungsschlag, was für Strohfeuer?
Wer glaubt, dass dieses 1:1 ein Befreiungsschlag war, macht einen großen mentalen Fehler! Nach einem Befreiungsschlag kann ich etwas nachlassen, weniger hart arbeiten. Ich habe das Schlimmste geschafft, ich habe mich ja befreit. Das gilt für die jetzige Situation aber überhaupt nicht. Die Mannschaft darf kein bisschen nachlassen, sondern sie muss in Intensität, Konzentration, Mut, Aggressivität und Teamgeist ganz genauso weitermachen oder sich sogar noch steigern. Wenn das allen klar ist, wird es auch kein Strohfeuer sein. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass das so ist. Trainer und Team werden nicht leichtfertig, nur weil sie einen Punkt gegen Spanien erkämpft haben. Sie wissen die Lage und ihr Können realistisch einzuschätzen. Das Match gegen Costa Rica ist eine tolle Herausforderung – und es wird harte Arbeit werden, mit der Option des Scheiterns.
Interview: Andreas Friepes.