Markus Brunnschneider, Fachbereichsleiter Spiel- & Taktikanalyse, Scouting und Kaderplanung am Internationalen Fußball Institut analysiert auch das dritte Gruppenspiel des DFB-Teams gegen Costa Rica: 

Klare Sache und gefährliches Spiel

„Do or die“ – die Ausgangslage

Dank einer guten Leistung und dank des Treffers des eingewechselten „echten Neuners“ Niclas Füllkrug zum 1:1 holte Deutschland im zweiten Gruppenspiel einen verdienten Punkt gegen Spanien. Die Spanier waren zuvor durch ihren Joker Alvaro Morata in Führung gegangen. Die DFB-Elf präsentierte sich gegen gewohnt spielstarke Spanier enorm kampfstark, gewann 57 % der Zweikämpfe und war dem Sieg am Ende sogar näher als die Iberer (11:7 Torschüsse, davon 8:3 nach der Pause).

Aktuell ist Deutschland trotzdem mit einem Zähler Letzter der Gruppe E. Costa Rica dagegen hat nach dem Erfolg gegen Deutschland-Bezwinger Japan drei Punkte auf dem Konto, geht aber dennoch als klarer Außenseiter in die Begegnung mit der deutschen Mannschaft. Auch nach eingehender taktischer Analyse fehlt mir jegliche Fantasie, wie es Costa Rica gelingen sollte, ein Tor gegen Deutschland zu erzielen. Doch keinen Gegentreffer kassieren, ist für die DFB-Elf nur die eine Seite der Medaille. Endet das Match etwa 0:0, während zeitgleich Spanien gegen Japan gewinnt, stehen die Mittelamerikaner in der K.-o.-Runde – und Deutschland nicht. Einzig denkbare taktische Devise also für Costa Rica: Sie parken den viel zitierten Bus vor dem eigenen Tor. Will sie ein vorzeitiges Ausscheiden wie 2018 vermeiden, ergibt sich für die deutsche Mannschaft daraus diese Aufgabe: Kimmich und Co müssen treffen, sie müssen Lösungen gegen einen tiefstehenden, zweikampfstarken Gegner finden.

Costa Rica: Never change a winning system!
Die „Ticos“ gewannen beim 1:0 gegen Japan 56 % der Duelle Mann gegen Mann und werden auch gegen Deutschland das eigene Tor entschlossen verteidigen. Dazu werden sie im Spiel gegen den Ball mit einer Grundordnung 5-4-1 und überwiegend tiefem Mittelfeldpressing antreten. Das ist das Erfolgsrezept aus dem Match gegen Japan und es gibt sieben gute Gründe, nicht zum 4-4-2 flach aus dem Spiel gegen Spanien zurückkehren. Unabhängig von Erfolgsrezepten und Grundordnungen bewahrheitete sich im Match gegen Japan jedoch vor allem einmal mehr eines: Zahlen hin, Analyse her – der Fußball schreibt immer wieder seine eigenen Geschichten. Costa Ricas Keysher Fuller nutzte den ersten Abschluss seiner Mannschaft im 16er und auch den ersten Versuch bei dieser WM, der auf das gegnerische Tor kam, zum Siegtreffer. Manche mögen das effizient nennen, aber an sich stellte das 1:0-Ergebnis für Costa Rica die Partie schlicht auf den Kopf. 14:4 Torschüsse, 5:0 Ecken und 55 % der Spielanteile – fast alle relevanten Kennzahlen sprachen klar für Japan, in der entscheidenden Statistik lag Costa Rica vorne.

Deutschland: Die offensichtlichen Schwächen des Gegners nutzen!

Japan konnte Costa Ricas Schwächen nicht nutzen, obwohl diese klar auf der Hand liegen. Die Costa Ricaner haben massive Schwierigkeiten, den Zwischenraum vor der Abwehrlinie zu verteidigen und sich gegen das Anspiel der Box von der Außenspur her zu wehren.

Über die Außenbahn

Vor allem über die linke Seite durch ihren hohen Außenverteidiger Jordi Alba knackten die Spanier bei ihrem 7:0-Triumph die Deckung Costa Ricas ein ums andere Mal. Übertragen auf die deutsche Mannschaft bedeutet das: (Außen-)Bahn frei für David Raum! Interessant ist auch, welche Torabschlusssituationen sich für die Spanier durch die Alba-Angriffe über außen eröffneten. Entgegen der Erwartung muss Deutschland nicht zwingend auf Lufthoheit im Strafraum setzen, etwa durch Füllkrug. Anspiele des Rückraums sind das hoch effektive Offensiv-Mittel, um zum Erfolg zu kommen. Durch den dort lauernden Ilkay Gündoğan zum Beispiel, der sich dann an der Strafraumgrenze die Ecke aussuchen könnte … Um für Gündogan oder andere Schützen die Räume aufzuziehen, sind übrigens Laufwege eines deutschen Angreifers zum kurzen Pfosten essenziell. Und falls diese taktische Variante doch nicht greifen sollte, hat Hansi Flick ja immer noch die Option, unseren „echten Neuner“ nachzulegen. Seine Qualität als Joker hat Niclas Füllkrug gegen Spanien perfekt unter Beweis gestellt.

Mit Musiala und Pressing

Von Anfang an eine besonders wichtige Rolle wird Jamal Musiala einnehmen. Im Spiel durch das Zentrum wird er, dank seiner herausragenden Qualität als Passempfänger zwischen den Linien, die Abwehrreihe Costa Ricas vor kaum lösbare Aufgaben im Zwischenraum stellen. Selbst die Spanier konnten Musiala häufig nicht einmal mit zwei Spielern regelkonform an einer kontrollierten Spielfortsetzung hindern.

Agiert Costa Rica in Ballbesitz, fällt auf, wie viel Energie sie in den geordneten flachen Spielaufbau investieren. Dieser Aufwand steht angesichts der insgesamt vier Torabschlusssituationen in zwei Partien allerdings in keinem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag. Im Gegenteil: Im Match gegen Japan wurden ihnen diese Ballstafetten durch einfache Ballverluste immer wieder fast zum Verhängnis. Im Spiel gegen den Ball ist für Deutschland also maximal hohes Pressing erfolgversprechend. Schnell und hoch den Ball gewinnen, um danach, zum Beispiel mit Musialas Klasse, die Unordnung in einer Mannschaft auszunutzen, die in Angriffsorientierung nicht mehr kompakt und tief verteidigt.

So kann Deutschland Costa Ricas offenkundige Schwächen in der Defensive nutzen: Antonio Rüdiger eröffnet das Spiel auf David Raum. Der spielt entweder gleich auf Ilkay Gündoğan in den Zwischenraum vor der Abwehrlinie, den die Costa Ricaner oft schlecht verteidigen. Gündoğan kann Jamal Musiala, Thomas Müller oder Serge Gnabry in Abschlussposition bringen. Oder Raum zieht Richtung Grundlinie, Musiala geht auf den kurzen Pfosten und Raum passt zurück in den Rückraum, etwa auf den einschussbereiten Gündoğan an der Strafraumgrenze.