Vor dem Hinspiel wurde das Halbfinale der UEFA Champions League zwischen dem FC Bayern und Real Madrid als 50:50-Duell eingeschätzt – und zur Halbzeit, also nach dem ersten Match in der Allianz Arena, ist es genau das: Zwischen den Bayern und Real steht es 2:2 nach Toren, und auch viele Statistiken offenbaren nur geringe Unterschiede. Ballbesitz, Torschüsse oder die gespielten Pässe sowie deren Erfolgsquote halten sich in etwa die Waage. Trotzdem ärgerte sich der FC Bayern über einen verpassten Sieg. Ein Erfolg der Münchner wäre durchaus verdient gewesen. Doch zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass die Bayern aufgrund ihrer schwachen Chancenverwertung und der „billigen“ Gegentore selbst dafür verantwortlich waren, kein besseres Ergebnis zum Rückspiel nach Madrid mitnehmen zu können.

Müller vs. Kroos und Laimer gegen alle

Zu Beginn des Spiels präsentierte sich Bayern in einem 4-4-2 defensiv und versuchte in Person von Thomas Müller wiederholt den im Aufbau so starken Toni Kroos zu decken. Real baute meist mit den beiden Innenverteidigern sowie dem tief fallenden Toni Kroos und dem Franzosen Aurelien Tchouameni auf. Wenn zudem noch Jude Bellingham kurz kam, um sich Bälle abzuholen, war die Präsenz Reals auf der letzten Linie weder groß noch gefährlich. Bayern schaffte es zudem immer wieder aggressiv und resolut in die Zweikämpfe zu kommen und gewann häufig Bälle. Mit Konrad Laimer stach ein Münchner bei diesen Defensivaktionen besonders hervor und stand stellvertretend für die Überlegenheit der Münchner in der Anfangsphase.

Tuchels erster Taktik-Trick

In Ballbesitz zeigte sich die erste erkennbare taktische Maßnahme, die Thomas Tuchel seinem Team mit auf den Weg gegeben hatte: Die beiden Spitzen Müller und Harry Kane positionierten sich in der Schnittstelle des jeweiligen Außen- und Innenverteidigers und konnten somit oft die komplette Viererkette Reals binden. Deswegen waren die beiden Außenbahnspieler Jamal Musiala und Leroy Sané in der Halbspur frei, in der sie sich oft fallen ließen. Ergänzend zu diesen Positionierungen schoben die Außenverteidiger der Münchner gelegentlich hoch und banden die Außenbahnspieler der Madrilenen oder waren ihrerseits frei. Durch eine hohe Position von Noussair Mazraoui entstand die erste große Chance von Sané in der 1. Spielminute. Generell konnten die Bayern dank ihrer geschickten Positionierungen ihr Aufbauspiel von hinten kontrolliert und ruhig aufziehen.

Tuchels zweiter Streich

In der zweiten Hälfte wandte Tuchels Team einen zweiten taktischen Kniff an: Mit der Einwechslung von Raphael Guerreiro für Leon Goretzka änderte Bayern seine Ordnung in der Offensive. Kane stand nun meist im Sturmzentrum zwischen den beiden Innenverteidigern. Müller schob rechts in den Zwischenraum und Guerreiro in den linken Zwischenraum. Sané und Musiala hielten die Breite und wechselten zudem die Seiten. Laimer war jetzt allein vor der Kette und übernahm den Aufbau mit Eric Dier und Min-Jae Kim. Diese Aufteilung leitete schließlich gut erkennbar das 2:1 ein, als Kim den Steckpass auf Müller im Zwischenraum spielte, der mit seiner Verlagerung den freien Musiala auf Außen fand. Der war dann nur durch ein Foul im Strafraum zu stoppen.

Mit der Führung und einem etwas aktiveren Real gegen den Ball agierte Guerreiro dann wieder vermehrt als zweiter Sechser und fiel durch Dreiecksspiel auf der linken Seite mit Mazraoui und Musiala auf.

Vinicius Jr. und Co bestrafen (fast) jeden Fehler

Die Bayern erlaubten sich nur selten Fehler im Aufbau, aber bei diesen wenigen Gelegenheiten zeigten die Spanier ihre Klasse. Im Umschaltspiel verfügen sie einfach über so viel Geschwindigkeit und technische Qualität, dass es immer gefährlich werden kann. So geschehen in der 64. Minute, als Musiala in einem Dribbling noch in der eigenen Hälfte den Ball verlor und Vinicius Junior und Bellingham ein Tor hätten erzielen können. Weitere Möglichkeiten für Real ergaben sich, wenn die Bayern nicht klar sortiert waren und Madrid mit spielerischer Klasse die richtigen Räume und Spieler fand.

Und dann waren da noch die zwei Gegentore: Zum einen zeigten sie, dass man Toni Kroos besser keinen freien Ball ermöglichen sollte, und sie zeigten zum anderen, dass Kim an diesem Abend ein ums andere Mal zu ungestüm in den Zweikampf gehen wollte, beziehungsweise ging.

Für die Bayern war es nach Abpfiff ein etwas ernüchternder Abend. Sie demonstrierten, dass sie Real über weite Strecken eines Spiels beherrschen können. Aber durch eigene individuelle Fehler und aufgrund der Kaltschnäuzigkeit der Spanier konnten sie nicht gewinnen. Was Real den Bayern voraus hatte, war vor allem die Chancenverwertung. In Madrid müssen die Bayern ebenso entschlossen zu Werke gehen, wie sie es über weite Strecken des Hinspiels taten. Auch wenn hinter einigen angeschlagenen Bayern-Spielern noch ein Fragezeichen steht: Das Match in Madrid wird ebenso spannend wie es das Duell in München war.